Vom Verschwinden echter Gespräche und der Sehnsucht nach Resonanz
Seit meinem Ausstieg aus Social Media hat mein Blick sich verändert. Nicht nur auf mich selbst, sondern auch auf meine Umgebung. Ich beobachte. Gespräche, die keine sind. Verbindungen, die wie Pseudoversionen von Nähe wirken. Und eine ständige Präsenz digitaler Vermittlung, die sich zwischen Erleben und Ausdruck schiebt.
Ich frage mich: Habe ich mich aus einem Teil der Realität verabschiedet? Entgeht mir etwas? Oder schau ich gerade zwischen die Zeilen?

Tiger, Bär & der letzte echte Satz
Ich denke an die Geschichte „Als Tiger und Bär beinahe das Beste verpassten“ aus der Janosch-Welt. Die beiden Freunde bauen sich eine Nachrichtenmaschine, um sich von Zimmer zu Zimmer Mails zu schicken. Erst finden sie’s großartig. Aber irgendwann reden sie nicht mehr miteinander. Sie schreiben nur noch. Sitzen nebeneinander – und kommunizieren über eine Apparatur.
Der Tiger fiel vor Schreck vom Stuhl, weil der Bär geredet hatte, und nicht geschrieben.
Wenn die Story wichtiger ist als die Geschichte
Neulich erzählt mir jemand begeistert von einer Faschingsverkleidung. Ich lächle – ich war live dabei, hab die Person erlebt. Aber noch bevor unser Gespräch Tiefe bekommt, wird das Handy gezückt. „Warte, ich zeig dir den WhatsApp-Status.“ Als wäre mein Erleben nicht valide. Als müsste ich es nochmal – offiziell, digital, verifiziert – gesehen haben, um es wirklich zu glauben.
Gesehen, geteilt, abgehakt
Ein anderes Mal will ich von einer kleinen Supermarkt-Entdeckung erzählen. Es wird ein schöner Satzanfang. Aber mehr nicht. „Ja, hab ich auch schon in der Facebook-Gruppe XY gesehen.“ Kein Platz für mein Staunen, meine Emotion. Fakten geteilt, Haken dran. Wie Tiger und Bär mit ihren Nachrichtenmaschinen – kommuniziert wird nicht mehr in real, sondern im reel.
Das passiert öfter. Es ist, als würde das Digitale unsere Zwischenräume besetzen.
Like mich am Arsch.
Deichkind
Fast forward? Des is realtime, Oida.
Ich rede mit jemandem über einen Schauspieler. Während ich spreche, wird schon parallel gegoogelt. Nicht aus Interesse, vielmehr aus Reflex. Gegoogelt. Gewusst. Bestätigt. Kein Gespräch. Kein Austausch. Nur Information.
I got the (U)X, if you’re into taking drugs
In der Straßenbahn spielt jemand ein Spiel, das aussieht wie Tetris mit Waben. Während sie* die Jacke öffnet, fängt ihr* Gehirn an zu klicken. Ich erinnere mich an die Spiele meiner Kindheit – und daran, wie stark gutes UX-Design uns fesselt. Dopamin mit Mascherl dran.
Das ist ein Thema für sich. Und eines, das auch auf Social Media-Plattformen zutrifft. Nicht zufällig sehen TikTok und Instagram aus wie Games. Nur mit mehr Likes, statt Endbossen.

Meta? Nein danke
Nachdem ich eine spannende Podcastreihe mit Namen Seelenfänger fertig gehört habe, berichten die Investigativjournalist*innen, wie sie in Facebook-Gruupen zu Interviewpartner*innen kamen. Und ich denk mir: Dafür ist Social Media wirklich praktisch. Wer weiß, vielleicht kehre ich eines Tages doch zurück: verändert, das System mitgestaltend. Im nächsten Moment erinnere ich mich an die Ethik der Softwareriesen aus dem Silicon Valley und hinterfrage die Perspektive sogleich.
Eine Bekannte Selbstständige wundert sich, warum sie nach ihrer ersten Anzeige auf Instagram plötzlich keine organische Reichweite mehr hat. Ich erspare ihr meinen Klugscheißerinnendiskurs zur Sinnhaftigkeit von Reichweite und sage: Das ist normal. Meta macht’s dir erst leicht – und dann teuer. Sichtbarkeit ist ein Abonnement.
Und das ist kein Bug. Das ist das Geschäftsmodell.

Ist das noch Anschluss – oder schon Abhängigkeit?
Habe ich mich rausgenommen aus der Realität? Oder hat sie sich verschoben – in andere Räume, auf andere Bildschirme? Im Studium hat mal jemand gesagt: „Wer keinen Internetzugang hat, ist exkommuniziert.“ Das klang damals wie eine Utopie für mich. Heute denke ich: Vielleicht war das nur der erste Entwurf?
Denn obwohl ich online bin, bewusst sogar, spüre ich, dass ich einen anderen Zugang gewählt habe. Weniger Plattform, mehr Präsenz. Weniger Feed, mehr Begegnung. Das Ding ist: Ich muss nicht alles wissen. Alles sehen. Zu allem eine Meinung haben.
Und vielleicht ist genau das der Punkt: Ich will nicht „drin“ oder „draußen“ sein. Ich will resonieren. Miterleben. Erzählen. Zuhören. Nicht nur reagieren. Und vor allem auch voi gern amoi was verpassen. #jomo
Wenn du meine Artikel liest, weißt du noch, wie es mir am Anfang damit ging.
Luxusweiber: Dialog ohne Publikum
Mit meiner besten Freundin teile ich mittlerweile Gedanken per Sprachnachricht. Ein paar Minuten nach einem Termin, vom Spaziergang, aus dem Alltag. Keine Bühne. Keine Likes. Nur wir zwei. Ein warmer, privater Raum zwischen Stimmen. Zwischen Atemzügen. Zwischen „Mir geht’s gut“ und „Ich wollt dir das einfach erzählen“.
Das ist Austausch, nicht Ausstrahlung. Gefühlsecht; mehr als ein Like je ausdrücken könnte.

Silent Walking & die Rückkehr zum Selbst
Im Flow-Magazin lese ich über „Silent Walking“ – ein Trend aus der Gen Z: ohne Kopfhörer, ohne Handy, oafoch nur gehen. Klingt banal. Und ist angesichts der Gegenwart revolutionär. Ist das ein Gegentrend? Eine Regulation? Ein leiser Ruf nach Innen?
Ich frage mich, ob das in unserer Natur liegt: dass der Mensch immer wieder zur Balance findet. Dass wir Wellen schlagen – und irgendwann wieder ans Ufer wollen.
Achtsamkeit ohne App. Als hätte der Körper selbst gemerkt, dass er Stille braucht.
Social Media macht uns nicht wirklich sozialer
Vielleicht – und das ist eine gewagte These – nimmt es uns sogar ein Stück Sozialkompetenz. Weil es für uns spricht. Weil es vorgibt, wie ein Gespräch geht. Weil es Nähe simuliert. Indem es uns suggeriert, für uns zu sprechen. Uns ersetzt. Kommunikation ohne Beziehung.
Vielleicht ist Social Media nicht kaputt – vielleicht ist es einfach genau so gebaut.
Das ist der wahre Skandal.
Ich beobachte eine Gesellschaft, die in großer digitaler Abhängigkeit lebt. Und das beunruhigt mich. Nicht, weil Technik per se schlecht ist. Sondern weil sie so tief ins Zwischenmenschliche greift, dass wir vergessen, wie Nähe ohne Netz funktioniert.
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